Personenfreizügigkeitsabkommen Schweiz – EU: Wichtige Neuerungen ab 1. April 2012
Mit der dritten Aktualisierung von Anhang II des Freizügigkeitsabkommens zwischen der Schweiz und der EU werden die neuen Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und die Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009 die bisher anwendbaren Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 und 574/72 ersetzen. Die neuen Regeln treten am 1. April 2012 in Kraft.
Bei der Bestimmung des auf eine Person anwendbaren Rechts (Kollisionsrecht) treten damit im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU folgende Änderungen in Kraft:
1. Entsendungen
Die maximale Erstentsendungsdauer für Arbeitnehmende und Selbständige wird neu von 12 Monaten auf 24 Monate ausgedehnt. Damit selbständig Erwerbstätige, die normalerweise ihre Tätigkeit in der Schweiz ausüben, vorübergehend ihre Tätigkeit in einem EU-Staat ausüben können und den schweizerischen Rechtsvorschriften unterstellt bleiben, muss es sich um eine „ähnliche Tätigkeit" handeln.
2. Gewöhnliche (gleichzeitige) unselbständige Tätigkeit in mehreren Staaten
Neu wird für die Unterstellung unter die Rechtsvorschriften des Wohnstaates bei gewöhnlicher Erwerbstätigkeit in mehreren Staaten für einen Arbeitgeber mit Sitz in einem Staat vorausgesetzt, dass ein „wesentlicher Teil" (25%) der Erwerbstätigkeit im Wohnstaat ausgeübt wird. Personen, die für ihren Arbeitgeber nicht oder nur zu einem unwesentlichen Teil in ihrem Wohnsitzstaat erwerbstätig sind, sind den Rechtsvorschriften des Staates unterstellt, in dem sich der Arbeitgebersitz befindet. Bei gewöhnlicher Erwerbstätigkeit für mehrere Arbeitgeber mit Sitz in verschiedenen Staaten erfolgt die Unterstellung weiterhin im Wohnstaat, unabhängig davon, ob dort ein wesentlicher Teil der Tätigkeiten ausgeübt wird.
Beispiele:
Schweizerin mit Wohnsitz in der Schweiz arbeitet für ihren Arbeitgeber mit Sitz in Italien zu 80% in
Italien und zu 20% in der Schweiz → Unterstellung in Italien (Sitz Arbeitgeber).
Schweizer mit Wohnsitz in der Schweiz arbeitet für seinen Arbeitgeber mit Sitz in Italien zu 70% in
Italien und zu 30% in der Schweiz → Unterstellung in der Schweiz (Wohnsitz).
Schweizerin mit Wohnsitz in der Schweiz arbeitet für ihren Arbeitgeber mit Sitz in Deutschland zu 20%
in der Schweiz und zu 80% in Italien → Unterstellung in Deutschland (Sitz Arbeitgeber), obwohl sie in
Deutschland keiner Arbeitstätigkeit nachgeht.
Schweizer mit Wohnsitz in der Schweiz arbeitet daselbst für einen Arbeitgeber mit Sitz in der Schweiz
zu 10% und in Italien für einen Arbeitgeber mit Sitz in Italien zu 90% → Unterstellung in der Schweiz.
3. Selbständige Erwerbstätigkeit in mehreren Staaten
Neu wird auch bei den Selbständigen für die Unterstellung unter die Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates bei gewöhnlicher Erwerbstätigkeit in mehreren Staaten vorausgesetzt, dass ein „wesentlicher Teil" (25%) der Erwerbstätigkeit im Wohnsitzstaat ausgeübt wird.
Wohnt eine selbständig tätige Person nicht in einem Staat, in welchem sie einen wesentlichen Teil (25%) ihrer Arbeit ausübt, wird sie demjenigen Staat unterstellt, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Tätigkeit befindet.
Beispiele:
Schweizer mit Wohnsitz in der Schweiz arbeitet zu 30% in der Schweiz und zu 70% in Frankreich →
Unterstellung in der Schweiz.
Schweizerin mit Wohnsitz in der Schweiz arbeitet zu 20% in der Schweiz, zu 40% in Deutschland und
zu 40% in Frankreich. Einzig in Frankreich verfügt sie über Geschäftsräumlichkeiten inkl. Ladenlokal
→ Unterstellung in Frankreich.
4. Gewöhnliche (= gleichzeitige) unselbständige und selbständige Tätigkeit in mehreren Staaten
Mit der neuen Verordnung wird das Prinzip der Unterstellung unter die Rechtsvorschriften eines einzigen Staates vollumfänglich verwirklicht. Die bisher mögliche Doppelunterstellung in zwei Staaten, die in den Konstellationen von unselbständigen und selbständigen Erwerbstätigkeiten
in mehreren Mitgliedstaaten zur Anwendung kam, fällt weg. Personen, die gewöhnlich in mehreren Staaten eine unselbständige und eine selbständige Tätigkeit ausüben, sind künftig ausschliesslich den Rechtsvorschriften desjenigen Staates unterstellt, in dem die Arbeitnehmertätigkeit ausgeübt wird. Dies gilt insbesondere für Personen, die in der Schweiz eine selbständige und in der EU eine unselbständige Tätigkeit ausüben.
5. Arbeitnehmende im internationalen Transportwesen (internationale Luftfahrt oder internationale Schienen- und Strassentransportunternehmen)
Die VO 883/2004 sieht keine Sondervorschriften für die Versicherungspflicht von Arbeitnehmenden in internationalen Transportbetrieben mehr vor. Die Unterstellung dieser Personen bestimmt sich nach den allgemeinen Unterstellungsregeln (gewöhnliche Tätigkeit in mehreren Mitgliedstaaten).
6. Ausnahmevereinbarungen
Bei der Klärung der Frage, welche Sozialversicherungsvorschriften länderbezogen anzuwenden sind, führen die Zuständigkeitsregelungen in der Praxis nicht immer zu zufrieden stellenden Lösungen. Angesichts dieser Problematik können im Interesse der betroffenen Person mit den zuständigen Stellen im Ausland im Rahmen von so genannten "Ausnahmevereinbarungen" abweichende Regelungen getroffen werden.
In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass eine solche Ausnahmevereinbarung für alle Bereiche der sozialen Sicherheit gilt.
Eine Grundvoraussetzung für den Abschluss einer Ausnahmevereinbarung ist das individuell zu begründende Interesse der betroffenen Person an einer solchen Regelung.
Weitergeltung der Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 und 574/72
1. Übergangsregelung
Personen, die nach den Bestimmungen der neuen Vo 883/2004 den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates unterliegen würden, bleiben während maximal zehn Jahren weiterhin den Rechtsvorschriften gemäss Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 unterstellt, solange sich der zugrunde liegende Sachverhalt nicht ändert (Art. 87 Abs. 8 Vo 883/2004).
Es ist allerdings möglich, eine Änderung der Unterstellung entsprechend den neuen Vorschriften zu beantragen. Wird der Antrag innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten bei dem zuständigen Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften neu anzuwenden sind, gestellt, unterliegt die betreffende Person den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats ab Inkrafttreten. Wird der Antrag nach Ablauf dieser Frist gestellt, so gelten die neuen Rechtsvorschriften für die betreffende Person ab dem ersten Tag des darauf folgenden Monats.
Formulare: Die bisherigen E-Formulare können vorläufig weiterverwendet werden.
2. EFTA-Staaten
In den Beziehungen zwischen der Schweiz und den EFTA-Staaten (Island, Liechtenstein, Norwegen) bleiben die Verordnungen Nr. 1408/71 und 574/72 in Kraft. Die neuen Verordnungen wurden noch nicht in das EFTA-Übereinkommen übernommen.